Hirn-Schrumpfung beim Anaesthesisten

Der folgende Brief an die Herausgeber der Zeitschrift „Der Anaesthesist“ (Herr Prof. Dr. med. R. Rossaint und Herr Prof. Dr. med. B. Zwißler) wurde dort nicht veröffentlicht, siehe dazu den Kommentar am Ende dieses Briefes.

Brief an die Herausgeber

Im Mai 2005 wurden im Anaesthesisten zu den Problemen des älteren Patienten Merkwürdigkeiten veröffentlicht [1], die den Leser höheren Alters erschrecken mussten:
In Tab. 1 wurde über physiologische Veränderungen des Über-75-Jährigen im Vergleich zum 30-Jährigen berichtet, unter anderem sollte, neben weiteren unglaublichen Befunden, das Gehirngewicht im Vergleich zum 30-Jährigen (100 %) nur noch 56 % betragen. Insgesamt also schreckliche Nachrichten für die Alten – und damit auch für den Unterzeichner. Eine ironische Nachfrage bei der Erst-Autorin im Klinikum für Anästhesie und Intensivtherapie der Philipps-Universität Marburg, womit denn der Verlust von 600 ml aufgefüllt würde, ergab die prompte Antwort: Mit Liquor. Der Versuch, diesen unglaublichen Befund mit einem Erratum aus der Welt zu schaffen, endete nach einem Jahr damit, dass der damalige Herausgeber, Prof. Dr. R. Larsen, dem Unterzeichner den Misserfolg mit der Bemerkung mitteilen musste: Ein hoffnungsloser Fall. Seitdem ist dieses Phänomen als “Marburger Hirn-Schrumpfung“ präsent [2].

Herr Zwißler, Ende 2009 auf diesen Vorgang angesprochen, konnte noch argumentieren, dieser Vorgang sei ihm (Gott sei Dank) leider nicht bekannt. Mit der Übernahme der Herausgeberschaft im Jahre 2010 änderte sich dies aber für ihn.

Im Jahre 2012 nämlich wird dieser Befund 7 Jahre nach der Erstveröffentlichung in einem CME-Artikel zum geriatrischen Patienten als Tabelle praktisch unverändert mit Zitat übernommen [3]: Wieder hat das Hirngewicht des über 75 Jahre alten Menschen gegenüber dem 30-Jährigen um 44 % abgenommen. Damit hat sich die “Marburger Hirn-Schrumpfung“ innerhalb von 7 Jahren von Marburg nach Norden (Lünen) ausgebreitet. Aus Sicht der Herausgeber, wieder Gott sei Dank, weil der Süden ausgespart geblieben ist.

Im Ernst, nun wird es Zeit die “Marburg-Lünen-Hirn-Schrumpfung“ zu eliminieren, es sei denn, man wollte wie das British Medical Journal auch Jahrzehnte verstreichen lassen, bis ein offensichtlicher Unsinn aus dem Anaesthesisten entfernt wird (vergl. Süddeutsche Zeitung vom Mai 2010 zur Entlarvung der Krankheit “Cello-Hoden“ als Scherz im BMJ [4] bzw. 6 Einträge zum Stichwort cello scrotum in PubMed).

Literatur

  1. Kratz CD, Schleppers A, Iber T, Geldner G: Pharmakologische Besonderheiten und Probleme des älteren Patienten. Anaesthesist 2005; 54: 467 - 475
  2. Physioklin: Marburger Hirn-Schrumpfung
  3. Herminghaus A, Löser S, Wilhelm W: Anästhesie bei geriatrischen Patienten. Teil I: Alter, Organfunktion und typische Erkrankungen. Anaesthesist 2012; 61: 163 - 176
  4. Süddeutsche Zeitung vom Mai 2010 zum “Cello-Hoden

Kommentar

Dieser Brief an die Herausgeber (Herr Prof. Dr. med. R. Rossaint und Herr Prof. Dr. med. B. Zwißler) wurde Anfang August 2015 zur Veröffentlichung im Anaesthesisten eingereicht, eine Nachricht an den Unterzeichner erfolgte nicht. Auf Nachfrage nach fast 3 Monaten teilte einer der beiden Herausgeber dem Unterzeichner mit, dass eine Richtigstellung aktuell in Vorbereitung sei, die durch den Brief an die Herausgeber ermöglicht wurde. „Die Herausgeber .... haben allerdings entschieden, dass der Leserbrief, der zwei Arbeiten, die schon viele Jahre publiziert sind, betrifft, nicht publiziert wird.“ Diese Argumentation offenbart – aus Sicht des Unterzeichners – mehrere fatale Fehleinschätzungen:

  1. Die Wissenschaft basiert auf der Suche nach der Wahrheit, daher ist es eine conditio sine qua non, dass jeder in einem wissenschaftlichen Journal publizierte Irrtum auch Jahrhunderte später – umgehend – an gleicher Stelle korrigiert wird, sobald er bekannt wird. „Hoffnungslose Fälle“ einer verweigerten Korrektur darf es nicht geben.
  2. Immer wieder in der Wissenschaft absichtlich platzierte Scherze werden natürlich, manchmal erst viele Jahre später, offenbart und bereinigt, z. B. die weitverbreitete „Steinlaus“ (Pschyrembel von der 255. bis 257. Auflage) oder der „Cello-Hoden“ im BMJ.
  3. Wenn im vorliegenden Fall der Hirn-Schrumpfung mindestens 4 Gutachter und mehrere Herausgeber den Unsinn nicht bemerkt haben, spricht das gegen das derzeitige Gutachterverfahren und für eine Offenlegung der Gutachter zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, wie es heute schon praktiziert wird, z. B. beim „Peer Journal“.
    Dieses Journal hat übrigens bei der ersten Beurteilung einen Impact Factor von 2,2 erhalten („intermediate“), der Anaesthesist liegt bei 0,757.
  4. Wenn der Springer-Verlag ein Statement zur Begutachtung von Veröffentlichungen abgibt, dann zeigt dies einen Aspekt dieses wenig transparenten Verfahrens auf:
    „London | Heidelberg, 18 August 2015: Springer confirms that 64 articles are being retracted from 10 Springer subscription journals, after editorial checks spotted fake email addresses, and subsequent internal investigations uncovered fabricated peer review reports … “

(Prof. Dr. med. R. Zander, Physioklin Mainz)