Addendum zum Beitrag „Grundkenntnisse der Physiologie gehen verloren“ vom 07.03.2024

Zu den missglückten Presseartikeln „Hinrichtung mit Stickstoff“ in der Allgem. Zeitung Mainz (24.01.2024) und Süddeutschen Zeitung (27.01.2024) wird hier ein Beitrag des Kollegen Dr. med. Thomas Ziegenfuß wiedergegeben, der eine amüsante Episode während seiner Ausbildung schildert.

"Im sog. Integrierten Praktikum Biochemie/Physiologie (Uni Marburg 1978) wurde während eines Seminars über Atemphysiologie ein Freiwilliger gesucht. Ich habe mich gemeldet, für sowas war ich meist zu haben. Ich wurde auf ein Stand-Fahrrad gesetzt und musste kräftig treten (zur Erhöhung des O2-Verbrauchs, damit es schneller geht).
Dabei bekam ich eine dichtsitzende Full-face-Maske auf, angeschlossen an ein Rückatemsystem ohne O2-Zufuhr. Zwischengeschaltet war ein CO2-Absorber wie in den Narkosegeräten. Das führte natürlich zu einer graduellen Abnahme der inspiratorischen O2-Konzentration, bei gleichzeitigem Anstieg der N2-Konzentration, Pulsoxymeter gab es noch nicht. Also ein Praktikumsversuch quasi äquivalent zur monierten Stickstoffhinrichtung, allerding nur bis zur Bewusstlosigkeit.
Ich musste von 100 immer 2 rückwärtszählen, und alle standen um mich herum und versprachen, mich aufzufangen, wenn ich bewusstlos würde und vom Fahrrad falle, um mir dann sofort die Hypoxie-Maske abzunehmen. Ich kam bis ungefähr 88, dann wusste ich nicht mehr wieviel 88 minus 2 ist, und bei 84 oder so fiel ich runter. Ich bekam ein zunehmendes Leichtigkeitsgefühl, als ob ich schweben würde - ansatzweise fast ein out of body experience und das Gegenteil von unangenehm: eher Euphorie, die bis zur Bewusstlosigkeit anhielt – oder jedenfalls bis zum Verlust meiner Erinnerungsfähigkeit
Durch die zuverlässige Elimination von CO2 hatte ich eben keinerlei Atemnot. Danach wurde alles innerhalb weniger Atemzüge wieder „normal“, und so weit erkennbar habe ich keine Hirnschäden davongetragen.
Ich bezweifele, dass sich heute noch Dozenten trauen würden, so einen Praktikumsversuch zu veranstalten, den ich mein Leben lang nicht vergessen habe.

Schlussfolgerung:
Die Hypoxie kann offenbar zum friedlichen Einschlafen führen. Sauerstoffmangel allein – ohne Hyperkapnie – bewirkt Glücksgefühle und geht nicht mit Atemnot einher."

Der Autor:
Dr. med. Thomas Ziegenfuß
Chefarzt der Abteilung für
Anästhesie und Intensivmedizin
St. Josef Krankenhaus GmbH Moers